Der 138 Seiten umfassende Koalitionsvertrag greift viele Themen, z.T. recht detailliert auf. Bemerkenswert ist die auffällig randständige Behandlung der Themen Migration und Flucht. Wenn das Thema überhaupt erwähnt ist, bleibt es meist bei Allgemeinplätzen und allgemeinen Bekenntnissen, lediglich in den restriktiven Bereichen wird der Vertrag konkreter.
Dies ist vor allem deswegen erstaunlich, da noch vor kurzer Zeit das Thema Flüchtlinge die öffentlichen Medien dominiert hat und Menschen mit Migrationshintergrund eine relevante Minderheit in Niedersachsen darstellen.
So kommt das Thema Migration im Bereich Schule fast nur bei den berufsbildenden Schulen vor. Als gäbe es keinen Förderbedarf in den übrigen allgemeinbildenden Schulen. Lediglich eine Entfristung der bestehenden Stellen im Rahmen der Sprachförderung wird in Aussicht gestellt. Diese Maßnahme trägt dazu bei, dass die erfahrenen Lehrkräfte in den Sprachlernklassen gehalten werden können und ist daher zu begrüßen. Sie ist aber erst dann am Ziel angekommen, wenn jedem Kind mit sprachlichem Förderbedarf auch zeitnah in ganz Niedersachsen eine Sprachlernklasse angeboten werden kann – auch für Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen.
Auch im Bereich Kultur spielt die Bereicherung der Kulturlandschaft durch Künstler_innen mit Migrationshintergrund keine Rolle.
SPD und CDU möchten politisch und religiös motivierten Extremismus bekämpfen. „Wir setzen auf Aussteigerprogramme und Landesprogramme gegen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus“. Ein Ausbau ist indes nur bei den Angeboten zu salafistischen Radikalisierungen und bei der Kompetenzstelle Islamismusprävention geplant. Damit wir uns nicht falsch verstehen: dies ist richtig und wichtig. Warum aber ist der Ausbau der Angebote im Bereich Rechtsextremismus nicht erwähnt? Deutlich mehr terroristische Straftaten in Deutschland gehen auf Rechtsextremismus als auf Islamismus zurück. Und dafür braucht man nicht erst „NSU“ zu denken. Nachdem Rechtsextremismus nunmehr auch in den Parlamenten (wieder) angekommen ist und rechtsextreme Äußerungen zunehmend hoffähig werden, sollte dorthin ein starkes Augenmerk gesetzt werden.
Das Bekenntnis zum Grundrecht auf Asyl und Zugang zu einem fairen Asylverfahren und die menschenwürdige Unterbringung ist verfassungsmäßig und durch internationale Konventionen garantiert und daher im Koalitionsvertrag deklaratorisch zu begreifen. Schade, dass es erwähnt werden muss. Aber besser einmal mehr als einmal zu wenig. Die einzigen weitergehenden Bekenntnisse beziehen sich dann auch eher auf den Ausbau der Möglichkeiten zu einer zügigen Rückführung und den Abbau von Abschiebehindernissen. Nur Personen mit einer „absehbaren rechtlichen oder faktischen Bleibeperspektive sowie Familien“ sollen noch auf die Kommunen verteilt werden. Auch Menschen, die bereits in einem anderen EU-Land bei der Durchreise registriert wurden, sollen nach der Dublin-Verordnung aus der Erstaufnahmeeinrichtung in dieses Land abgeschoben werden.
Die Koalition will alle Möglichkeiten, die das Asylgesetz zur langfristigen Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen bietet, offenbar nicht nur bei Personen aus den sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ ausschöpfen, sondern diesen Personenkreis noch ausweiten. Menschen, deren Asylantrag noch nicht entschieden ist oder abgelehnt wurde, können so verpflichtet werden, bis zu 24 Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen. Da Kinder und Jugendliche, die in der Erstaufnahme wohnen, gleichzeitig in Niedersachsen nicht der Schulpflicht unterliegen, besteht ein großes Risiko für die Lernkontinuität. Die bestehenden Ersatzangebote in den Erstaufnahmeeinrichtungen können ein Unterrichtsangebot in der Regelschule nicht ersetzen und sind allenfalls für einen Übergangszeitraum von wenigen Monaten zur Schulvorbereitung vertretbar.
Im Koalitionsvertrag befindet sich auch die Einigung, im Bundesrat für die Erweiterung des Konzepts der „sicheren Herkunftsländer“ auf den Maghreb zu stimmen. Ungeachtet dessen, dass zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in den Maghrebstaaten registriert werden.
Das Tragen eines Kopftuchs soll nicht nur Richterinnen verboten werden, sondern auch Staatsanwältinnen und sogar Schöffinnen und Referendarinnen. Da das Referendariat eine wesentliche Grundlage der Juristinnenausbildung ist, kommt dies einem Berufsverbot für gläubige Musliminnen gleich. Ein klarer Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Folgerichtig werden im Absatz „Gleichstellung und Antidiskriminierung“ Migrant_innen gar nicht mehr als Betroffene von Diskriminierung erwähnt. Zwar wendet sich die Koalition allgemein gegen jede Form der Diskriminierung, erwähnt werden hier aber nur Frauen, Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen. Dieses Bekenntnis ist richtig und wichtig, reicht aber nicht aus.
Integration und Teilhabe soll ausgebaut werden, das ist schön. Nur hat das Land neben der beruflichen Qualifizierung dabei nur die Stärkung der bei den Kommunen angegliederten Koordinierungsstellen für Migration und Teilhabe im Blick, nicht aber die seit Jahrzehnten mit freien Trägern erfolgreich arbeitende „Kooperative Migrationsarbeit in Niedersachsen (KMN)“. Das Bekenntnis zur Erhaltung und zum Ausbau dieser gewachsenen Strukturen der Migrationsberatung fehlt hier leider. Stattdessen sollen die Koordinierungsstellen zusätzlich Anlaufstellen für Bildung, Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration werden. Warum diese für die eigentlich originäre Tätigkeit der Arbeitsagenturen und Jobcenter besonders qualifiziert seien, lässt der Vertrag offen.